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michael herrschel:
rosa oder die versprochene welt

 

1

knospe

 

Der Antoni ist schon wach
und macht sich zu schaffen:
Drunten auf dem Hof schwingt er
den regennassen, schiefgedrückten Besen,
malt auf die Pflastersteine ein
geheimes Wort für mich, und
noch eins, und schaut hoch zu mir,
zum Fenster, wo ich nicke.

Antoni, mein Verschworener:
du gibst mir das Zeichen –
und weißt nicht wozu…
Einmal wirst du es wissen!

Ich aber, ich muss laufen,
leise über die Dielen dorthin,
wo die Vorstellung beginnt – jetzt:

Auftritt der Heldin! Einer
abgeschnittenen Blume,
dem Tod nahe… Nein, halt!
Stirb nicht! So stumm in deiner Vase…
du musst erst – blühen!
Deine Augenlider auftun!
Ach, ich fiebere. Ich warte…
Draußen wird es hell…
Die Welt will sehen,
mit Augen sehen.
Es ist meine Gewissheit…!

Antoni, gib acht:
Wenn diese Knospe aufspringt,
wirst du mit mir begreifen…

Antoni? Ich hör dich gähnen,
du Löwe, gefangen in deinem
feuchten Schacht……………

(Pst! Blicken Sie hinter die Kulissen, dann sehen Sie: die Blume ist nicht abgeschnitten. Sie wächst aus einem Topf mit Erde. Wie damals: Ich sah sie an, und sie ging und ging nicht auf. Erst als wieder Nacht war und wir schliefen. Wir alle. Alle außer Antoni. Aber der sah sie nicht, denn er hatte keinen Zutritt zu diesem Zimmer…)

 

 

2

haskalah

 

Meine Vorfahren hatten ein
besonderes Talent: sie spürten
unter geschriebenen Wörtern
die heraus, aus denen noch etwas
Lebendiges werden kann,
und nahmen sie, voll Hoffnung,
und säten sie auf mageren Grund,
auf Sand und auf Steine.
Und was nicht verdarb und
was der Wind nicht verschluckte,
das zogen sie als junge Pflanzen hoch
mit viel Geduld, und legten Beete an,
mit abgezirkelten Rändern,
und strichen mit silberhellem
Zeigefinger über die Furchen
und murmelten sachte dazu.

Ihr Echo: das zittert in mir! und ich will
meine Stimme erheben und laut sagen,
was jene nur schüchtern ersehnten…
Ja, ich bin ungeduldig! Vorwärts will ich!
Lacht nicht: ich hinke voran, wie
Urvater Jakob mit geschlagener Hüfte,
und wenn ihr wissen wollt, weshalb,
so hört: Ich habe mit keinem Engel
gerungen, o nein! Ein Kurpfuscher war’s,
der mich lädierte, mich, das Kind Rosalia,
das schrie vor Zorn: Psiakrew, do cholery!
Reden wir nicht mehr davon.

Reden wir von dem, was kommen wird:
Umwälzungen der Welt.

Fortschritt. Erfindungen.

Und ob wir sie für uns nutzbar machen,

oder ob wir von anderen benutzt werden,
kurzum: ob wir handeln oder leiden?
Das ist heute keine unerhebliche Frage.
Und es bleibt uns nicht viel Zeit – – –

 

 

3

antikriegsmaschine


Die Parole heißt: Flink sein,
wortgewandt auftreten gegen die
phlegmatische Übermacht,
gegen den Aberglauben,
dass alles nur „Schicksal“ sei,
unabänderliches!

Das ist es nicht! Wir selber sind es,
Millionen und Abermillionen Einzelne,
die wir jede Stunde aufs neue entscheiden,
ob wir der Mühsal des zivilen Lebens
beherzt ins Auge schauen – oder ob wir
uns feige aus dem Leben davonstehlen,
indem wir einander totschießen, ja!
und mit Bündeln von Dynamit uns
in die Luft jagen, weil man uns
„Berühmtheit“ in Aussicht stellt,
aber erst nach dem Tode! Ha!
Was für eine schlaue Spiegelfechterei
der Kriegsleute! Der Krieg ist ihre
knurrende Wundermaschine, die sie
füttern mit unserem Fleisch und Blut!

Und ich schleudere gegen sie
meine ketzerischen Blitze, mit
eigener maschinenhafter Präzision.
Ich brauche dafür Druckerschwärze
und ein wenig Papier, und ich ahne,
dass es zur Neige geht – es sei denn,
ich kaperte eine Werkstätte: mit der
Pistole in der Hand, und immer gejagt
von der allerheiligsten Feldgendarmerie,
die leben und überleben will, wie ich – !

 

 

4

herbarium

Was wird aus dir, wenn sie dich
vom Erdboden verschwinden lassen,
dich festhalten hinter Gittern?
Was bist du dann?

Ruf, der von Wänden widerhallt,
brach liegende Kraft,
Adlerauge, ja! an Raum und Weite
bist du gewöhnt – nun übst du dich
im akkuraten Vergleichen
getrockneter Blätter und Blüten,
deren Schönheit und Farbenfülle
du unendlich liebst, auch wenn sie dir
den Sommer nicht ersetzen können,
den lebendigen, jenseits der Mauern!

Widerspenstige Pflanze, du: selbst
eingepresst zwischen Buchdeckel
wirst du älter, ruhelos älter –
und auf den Feldern draußen
geschieht, wovor du warntest,
wogegen du protestiertest:
Menschen verbluten wie Lämmer,
Freiwillige, Gezwungene, ohne Unterschied.
Wie lange noch? Es wird erst enden,
wenn die Predigten vom Sieg
schamhaft verstummen,
wenn die Geißel des Hungers
die Gutgläubigen das Zweifeln lehrt.

Dann, vielleicht, kommt deine Stunde.
Dann heißt es: die Stimmen vereinen
zum friedfertig bunten Chorus einer anderen Welt!

Dann springt dein kleines Büchlein auf,
und es treten heraus die toten Blumen alle,
und strecken die Köpfe himmelwärts
und fordern einen kräftigen Regenguss,
um sich zu erquicken – und niemals
wieder zurückzufallen in tiefen,
betäubenden Schlaf……………

 

 

5

der 852. tag

 

„Achtung! Die Sachen packen:
Sie sind frei!“ – Mein Puls rast.
Ich muss zu den Soldaten reden, die
in Scharen heimkehren, mit fragenden
Gesichtern, denen wir Antwort schulden.
Lasst mich auf die Tribüne klettern!
Von da banne ich den Zauber,
der uns noch immer gefangen hält.

Von da rufe ich den Herren Offizieren zu:
Werft eure Peitschen fort! Es ist vorbei!
Ihr müsst euch nicht länger
wie Götter gebärden!

Ich weiß, das ärgert manche. Sie drohen.
Sie wünschen, dass ich mich beuge.
Ich aber werde beweisen, wie anders es wird,
für uns alle, wenn wir aufrecht schreiten!
Die Menschenwelt braucht keine Teilung
in Herren und in Knechte.

Auch nicht bei uns, Genossen der Revolution:
Ich werde es euch austreiben, wenn ihr aus
bloßer Phantasielosigkeit versuchen solltet,
das eine abgehalfterte Göttergeschlecht
durch ein anderes zu ersetzen…!

Mit besseren Plänen lasst uns
die Gespenster besiegen.

Halt! – Was war das?

Nichts… Nur ein Augenblick
Unsicherheit. Schwäche.

Nein, keine Pause.
Kommt, weiter!

 

 

6

lynkeus, erschossen

Ich liebe es nicht, mich zu verleugnen.
D i e s  ist meine Schuld, Herr Hauptmann…!
Welche Rolle darf ich spielen in Ihrer Komödie?
So schauen Sie mir doch in die Augen!
Was wispern Sie da für Anweisungen?

Oh, ich begreife… Ich werde hinausgeführt
auf die Bühne der Nacht, wo ich – wie vom
Blitz getroffen – umfalle! und Sie werden damit
nichts zu schaffen haben, es wird sein wie eine
wütende Tat des Volkes. Aber… das Volk
ist nicht anwesend. Ich sehe nur Offiziere…

(Auf, in die kalte Luft… Ach Gott, was ist das: die Regie versagt! Ein Statist springt aus der Reihe. Auf mich zu. Gierig nach Belohnung hebt er den Gewehrkolben und – schlägt… ach, viel zu früh! viel zu nah an den Augen des Hotels! Die anderen fluchen, werfen mich ins Automobil, der Motor springt an, die Reise beginnt.)

„Ich blick in die Ferne,
ich seh in der Näh…“ – was will
der Leutnant auf dem Trittbrett?
Soll er – das Volk sein…?
Er küsst meine Schläfe mit der
Mündung seiner Waffe, und –
versagt – und jetzt – nochmal –
Bitte nicht! ich will nicht
sterben, ich will – will – –
– – – – – – – – – – – – – –

Bin das – noch ich?
Was da liegt? – oder
häutet sich das Denken –
lässt etwas zurück, eine
Hülle, fast zu leicht, um
unterzugehn im Wasser –
befestigt man Gewichte
an ihr? – ehe man sie
hinabwirft in den Kanal,
wo sie jetzt auftrifft –
umschlungen von Kälte,
die ich nicht mehr – fühle –

 

 

7

die das netz nicht fängt

Wer glaubt, ich wäre erlöst,
irrt. Es bleibt ja das meiste
noch ungesagt und – ungetan.

Was führt vom Begreifen
ins Bewirken… und
nicht bloß einmal, nein,
immer neu…?

Begriffenes ist nicht: ein Steinklumpen.
Ist: eine flatternde Wolke, ein wilder
Vogelschwarm – der gleitet hinab
auf taubedecktes Land:

so viele Stimmen, flüchtige Schatten –
die kleinen Körper suchen Wasser
und Früchte – verfangen sich
im Schleiernetz – singen
unauslöschlich hell………

Mein Lied: ist nicht mehr meins.
Es werden andere…?
Aber ich weiß es nicht.

Was bedeutet: mein Bild an der Wand?
Zu  l e b e n  bedeutet alles!

Vergessliche alte Ewigkeit
schichtet Namen auf wie Scheite,
die man anzündet. Und manche
verfluchen die Asche, und andere
deuten das Feuer als Heiligen-Schein…

Ach, könnte ich da widersprechen!

Aufklärung will ich,
keine Verklärung!

Unsterblich ist die Veränderung.
Schaffens-Musik.

(Zerhauen das Instrument. Noch im Raum der Klang. Die Frage. Die Verwandlung billiger Antwort in eine Frage… aufmerksam lauschend: wer sie findet? wer………?)

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

    

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