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michael herrschel:

das steinschneiden

 

1

 

Ein und aus atmen:
tief. Ungehindert.
Aus und wieder ein
bis in die letzten Winkel
durch alle Räume alle
Kammern meines Leibes
hinauf bis unters Dach:
dass der Wind durch
die Schindeln bläst.

Alle Qual entlassen
aus meiner Stirn.
Alle Last aufgehoben.

Der alte grindige
kieselharte Panzer
aufgeknackt.
Was für ein Glück!

Freu dich.

Endlich nicht mehr

dieser Druck.

Endlich:

mein Schädelkerker
aufgemeißelt.

Und alle Geister
die mich besessen haben:
husch! auf und davon.

Nichts mehr in mir
von ihren klebrigen
Schattenfetzen.

 

 

2

 

Was für ein Tag.
Mir schwindelt.

Im Augumdrehen
im Handanlegen
wird aus mir ein
ganz neuer Mensch:
eins mit dem Leib
von dem alles
ein Teil ist.

Ich auch! Ja:
mit einem Mal
entsetzlich weiß
und leer. So ganz
ausgefegt und
ausgewunden.
Ausgepresst.

Alle Reste aus
dem Kopf gespien.
Festgebackene Schlacke
abgeschlagen. Ausgeworfen.
Ausgeschieden alles
was mich geplagt hat.

 

 

3

Ein Schnitt!
Ein Stich.
Ein Blitz ins Hirn.

Und plötzlich
verbunden mit allen
Punkten um mich her.

Ich – bin! Ein Summen
im Schwarm. Ja. Eine
Nummer im Bienenvolk.
Ein emsiges Flügelpaar.
Eine Silbe im Satz.
Eine Zahl im Klang.

Nicht mehr trotzig
störrisch beharrlich.
Aufgeschlossen jetzt.
Aufgetan. Verwirrend
rein. Blank und hell.

Meine Dachkammer

füllt sich mit Luft und Licht.
Mit Himmel und Feldern.

Da fließt pralles Grün.
Saftig fette Brachlandfarbe.
Da drin sind Windmühlen
weiß und fliegenklein.
Die zittern von Flatter-
schlag zu Flatterschlag.

Drüber wölbt sich das Leere.
Das dehnt sich. Das wogt
in verzehrenden Schichten
bläulicher Fäulnis.

Und ich: ein Gefäß
dem all das zuströmt.
Alle Farbe. Alles Blühen.
Welken. Und Vergehen.

 

 

4

Zu Ende die Blindheit.
Nach allen Seiten
sehen können.
Ohne den Hals
zu verrenken.

Hinaus blicken
in die Welt.
Wachsam sein
mit Nase Mund Ohren
allen Öffnungen
die in mich geschnitten
geschlitzt gebohrt sind.

Aufgebissen angezapft
alles wittern. Schmecken.
Verstehen was geschieht.

Magere Hände
ziehen Linien.

In dich.

Ins Ziel.

 

 

5


Auf meine Wange
macht einer mit
langen spitzen Fingern
ein Zeichen: dieser Kahlkopf

in seiner jagdgrünen Kutte

hält eine leere Kanne
fest an die Brust gepresst.

Ausgedörrte Zungen
preisen die würzige
Schärfe in deinem
purpurroten
erquickenden Saft.

Ich spürs: Er giert
nach meinem Blut!

Und es quillt mir
aus den Augen.

Senkrecht nach oben
seh ich diesem Wunderdoktor
mit seinem aufgestülpten Trichter
mitten ins Gesicht.

Stillgehalten:
Alles bereit für die
Haupt-Operation!

Er fischt mit der Klinge
im glitschigen Boden
meiner Hirnhöhle.
Ein Leuchten geht
über sein Gesicht.
Er kriegt was zu fassen.
Was ist das?

Und was zum Henker
hat mir diese Schwester

da drüben voraus

an heimlichem Wissen?

Auf ihrem Scheitel ruht
ein dicker Foliant.
Auf dem Tisch vor ihr
liegen Schnittblumen.

 

Zwei Stück.
Unscheinbar. Grau.
Die feinen Blüten-Adern
sind ganz ausgetrocknet.

Die dritte

noch lebendig
sie blüht dann noch
in meinem Kopf?

 

Herr Doktor: Halt!

Nicht weiter!

Alles was ich bin
steckt in dieser Blume.

Lasst sie mir. Ach:
Ich sitze zu fest
in meinem Stuhl.
Löst mir den Riemen.
Ich muss mich
bewegen: Frei sein.

Alarm! Wag das nicht!
Wer schamlos rebelliert
dem droht der Galgen!
Reiß dich zusammen:
oder du zappelst am Strang
schwarzen Vögeln zum Fraß
.

Nein! Erbarmen!
Habt ihr kein Herz?

Schweig! Narr!
Plumpe schlaffe
verschrumpelte Kröte!
Was quakst du
von Herzigkeit?
Nichts weißt du!
Nichts bist du gewesen.
Nichts als ein kurzes
Blaken im Sumpf.
Ein Rußhauch
der verweht.

Nein!

O ja!

Die Krankheit ist vorbei.

Der Stein deiner Torheit
ist geschnitten.

Du schwaches Kind.

Endlich aufzugehen

im wahren starken

großen Ganzen:
Jetzt hast du das
glücklich geschafft.

Ach! Nein:
Meine Leichtgläubigkeit
hat mich verraten.
Ich hätte fragen sollen
nach dem Buch auf dem
Kopf jener weisen Frau.
Da hätte ich Vernunft

und Reife erworben.

Vergiss das Buch!
Was du drin suchtest
war deine eigene Laune:
jung und schwach.

Ein Fressen für Würmer.
Aber tröste dich:
Die Weisheit
die wir dir sagen
ist viele tausende
Jahre alt.
Tröste dich!

Nein.
Nein.
Ich kann

das

nicht.

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

    

Hieronymus Bosch: Das Steinschneiden (~1494?)
Hieronymus Bosch: Das Steinschneiden (~1494?)

  

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